SWP Berlin. Begriffe und Realitäten internationaler Politik. Januar 2016. 9. Scheitern? Bestehen? Weitergehen? Die europäische Integration in der Krise.

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Inhalt 5 Einleitung Volker Perthes Europäische Integration 9 Scheitern? Bestehen? Weitergehen? Die europäische Integration in der Krise Barbara Lippert / Nicolai von Ondarza Trans atlant ische Beziehungen Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Im Umgang mit den USA müssen wir lernen, mit Unsicherheit zu leben Johannes Thimm Interdependenz : Russland beziehung Mit Unterschieden umgehen: Die Rolle von Interdependenz in der Beziehung zu Russland Alexander Libman / Susan Stewart / Kirsten Westphal Abschreckung 23 Abschreckung neu deklinieren. Die Nato, aber auch die EU und die Staaten sind gefordert Claudia Major Rüstungskontrolle Raus aus der Deckung! Rüstungskontrolle als Fundament einer modernen Ordnungspolitik Marcel Dickow / Oliver Meier China: Seidenstraße n-Vision 33 Chinas Vision einer globalen Seidenstraße Nadine Godehardt Transformationspartnerschaften 37 Tra nsformationspartnerschaften neu ausrichten: Weichenstellungen statt Gießkannenprinzip Muriel Asseburg / Isabelle Werenfels / Heiko Wimmen Fluchtursachenbekämpfung Fluchtursachenbekämpfung: Ein entwicklungspolitisches Mantra ohne Inhalt? Steffen Angenendt / Anne Koch Klimapolitik : Global Governance Global Governance in der Klimapolitik Œ Auferstanden aus Ruinen Susanne Dröge Deutsche Außenpolitik Über den Tag hinaus: Deutsche Außenpolitik jenseits des Krisenmodus Günther Maihold 55 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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SWP Berlin Begriffe und Realitäten internationaler Politik Januar 2016 5 Einleitung Volker Perthes Begriffe und Wirklichkeiten stehen keineswegs notwendig im Gegensatz zueinander. Begriffe helfen uns vielmehr, politische und andere Realitäten zu erfassen, indem sie Annahmen über die Wirklichkeit und deren Zusam -menhänge auf den Punkt bringen. Politik ist auf bestimmte Schlüssel -begriffe angewiesen, die eine kondensierte Aussage darüber enthalten, was das Problem ist und was de r Ansatz, mit dem man ihm zu Leibe rücken will. Ü berprüfen müssen wir gelegentlich, ob sie uns auch helfen, mit Ver -änderungen der Wirklichkeit oder mit Überraschungen umzugehen, die unseren Annahmen widersprechen. Wenn und wo dies nicht der Fall ist, heiß t es gerade in der öffentlichen Diskussion oft, dass »nichts mehr so ist wie bisher«. Was erfahrungsgemäß selten stimmt: Weder nach dem 11. Sep -tember 2001 noch nach Fukushima oder nach der Krim -Annexion war »nichts mehr wie vorher« Œ auch wenn wir in jede m dieser Fälle unsere An -nahmen und Begriffe überprüfen mussten. Das Gleiche wird mit Blick auf deutsche und europäische Politik vor und nach den Terroranschlägen von Paris gelten. Wir haben uns vorgenommen, in diesem Ausblick nicht nur auf zentrale und ge rade für Deutschland relevante Politikfelder einzugehen, sondern dabei auch einige der Schlüsselbegriffe, mit denen wir Œ in der Wissen- schaft wie in der Politik Œ gern operieren, auf ihre Gültigkeit hin zu über -prüfen. So fragen Barbara Lippert und Nicolai von Ondarza in ihrem ein -leitenden Beitrag, ob wir eigentlich weiterhin von der Unumkehrbarkeit europäischer Integration sprechen können. Eher nicht, so die Autoren, die gleichwohl mehr politische Integration fordern und bei der Suche nach den Integrationsdefiziten vor allem auf die Mitgliedstaaten verweisen. Und Johannes Thimm empfiehlt angesichts des Wahlfiebers, das in den USA, aber ebenso bei allen USA -Beobachtern ausgebrochen i st, dem Rennen um das Weiße Haus einfach mal etwas weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Auch die innenpolitischen Blockaden in den USA, die es weiter hin geben werde, solle man nicht überbewerten, wenn nach Amerikas internationaler Führungs – und Gestaltungsf ähigkeit gefragt wird. Stattdessen sollten wir uns in Europa zunächst selbst darüber klar werden, wo wir Führung von Washington erwarten und wie viel wir davon wünschen. Deutsche Politik gegenüber Moskau hat sich über Jahrzehnte Œ auch zu Zeiten der UdSSR Œ auf Interdependenzen gestützt und diese gleichzeitig zu fördern versucht. Für einige Kommentatoren ist mit der russischen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine auch der Interdependenz -Begriff als Begründungszusammenhang einer auf Annä he-rung durch Kooperation gerichteten Politik in Verruf geraten. Alexander Libman, Susan Stewart und Kirsten Westphal raten dazu , nicht das Inter -dependenz -Konzept zu verwerfen, sondern die Annahme zu überprüfen, dass wir Œ die EU einerseits, Russland ande rerseits Œ unter Interdependenz

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Einleitung SWP Berlin Begriffe und Realitäten internationaler Politik Januar 2016 6 wirklich das Gleiche verstehen. So soll Interdependenz aus Sicht der EU -Staaten genutzt werden, um in zunehmendem Maße gemeinsame Regeln zu etablieren. Aus russischer Sicht werden gemeinsame Regeln hingegen eher auf der »Kos tenseite« internationaler Zusammenarbeit verbucht. Keineswegs nur mit Blick auf Russland lässt sich fragen, ob der Begriff der Abschreckung heute noch als strategischer Leitbegriff ausreicht. Ange -sichts des russischen Verhaltens in der Ukraine hat er zwei fellos eine Re -naissance erlebt. Eine insgesamt diffusere Bedrohungslage verlangt aber, wie Claudia Major erklärt, das Konzept neu zu deklinieren: Abschreckung muss (wieder) glaubwürdig sein und man muss ihre Grenzen erkennen. Zur Abwehr wirtschaftlichen D rucks oder gezielter Desinformation etwa taugt klassische militärische Abschreckung genauso wenig wie im Kampf gegen Terrororganisationen, die eine gewalttätige Reaktion angegriffener Staaten geradezu provozieren wollen. Hier kann Abschreckung allenfalls in gesellschaftlicher Resilienz liegen Œ also in der Stärkung der Fähigkeit, Widerstand gegen externe Versuche zu leisten , Staaten und Gesellschaften zu destabilisieren. Gleichzeitig bleibt die zentrale Aussage des Harmel -Berichts von 1967 gültig, dass die Sicherheit zwischen Staaten aus den zwei Elementen Verteidigung und Entspannung besteht. Auch vor diesem Hintergrund ist »Rüstungskontrolle« seit langem ein wichtiges Politikfeld und ein grundlegender Begriff gerade deutscher Sicherheitspolitik. Marcel Dic kow und Oliver Meier wollen ihn keineswegs verwerfen, fordern aber, den Begriff teilweise neu zu bestimmen, damit Rüstungskontrolle ein Teil aktueller Bemühungen um internationale Ord -nung bleiben kann. In diesem Sinne soll Rüstungskontrolle nicht mehr all ein ein Element intergouvernementalen Handelns sein; sie muss viel -mehr auch für innerstaatliche Konfliktsituationen relevant werden, und sie sollte »dual use« -Technologien in den Blick nehmen, die sich nicht ein -deutig dem Militärischen zuordnen lassen. Nadine Godehardt fragt, ob wir nicht unterschätzen, wie groß die Be- deutung von Visionen für andere Akteure der internationalen Politik ist. Sie macht das konkret am chinesischen Projekt der »Neuen Seidenstraße« fest Œ zwar kein Gegenmodell zu westlichen Kon zepten, wohl aber eine Ordnungsvorstellung, die uns zeigt, dass zentrale Akteure wie China mit -tel fristig über die uns wichtigen Normen, Regeln und Institutionen der internationalen Staatengemeinschaft hinausdenken könnten. »Transformationspartnerschaft« war einer der Begriffe, die 2011 ange- sichts der Aufbruch sstimmung in der arabischen Welt geprägt wurden, um die deutsche und europäische Politik gegenüber dem südlichen Nach -bar schaftsraum der EU zu charakterisieren. Soll man an dem Begriff fest -halten, a uch wenn das entsprechende »Instrument«, wie Muriel Asseburg, Isabelle Werenfels und Heiko Wimmen konstatieren, bislang keinen erkennbaren Einfluss auf die politischen Ordnungen oder die Herrschafts- konflikte in den Staaten der Region hatte? Die Antwort der Autoren ist ein konditioniertes Ja. Allerdings wäre weniger Œ an Partnern und an Projek- ten Œ hier tatsächlich oft mehr. Dies verlangt allerdings die Bereitschaft zu Fokussierung und Priorisierung.

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Einleitung SWP Berlin Begriffe und Realitäten internationaler Politik Januar 2016 8 sie separat analysieren. Syrien, die Flüchtlingskrise, der Kam pf gegen den Terrorismus in Europa und auch die Beziehungen zu Russland sind nun unmittelbar miteinander verwoben. Wo aber Krisen und Bedrohungen nicht mehr sauber voneinander abgrenzbar sind, verschwindet nicht nur die Grenze zwischen Innen – und Außenpoli tik mehr und mehr. Man wird auch Strategien entwickeln müssen, die Außen -, Sicherheits -, Europa -, Innen – und Gesellschaftspolitik überspannen. Natürlich wird der soge- nannte Islamische Staat (IS) nicht ohne den Einsatz militärischer Gewalt verschwinden. Abe r ohne ein Ende der Kämpfe in Syrien und ohne einen Friedensprozess zwischen der Regierung in Damaskus und der Opposition wird es keinen nachhaltigen Sieg über den IS geben, wird dieser auch weiterhin junge Jihadisten aus Europa anziehen und wird die Flüch tlings -welle nicht abebben. Ohne die Zusammenarbeit mit Russland und allen anderen Staaten, die Einfluss auf die Kriegsparteien in Syrien haben, wird es nicht einmal einen glaubwürdigen Friedensprozess geben. Und ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den ideologischen Wurzeln des Jihadismus in Saudi -Arabien und ohne politische wie soziale Reformen in den arabischen Staaten Œ siehe den Beitrag über Transformationspartner -schaften Œ wird der Nährboden für extremistische Organisationen dort fruchtbar ble iben. Aber die Hausaufgaben liegen natürlich nicht nur bei den nahöstlichen Akteuren. Die deutsche Beteiligung am militärischen Kampf gegen den IS in Syrien dürfte das Gefährdungspotential hierzulande erhöhen. Eine um -fassende Strategie gegen die terroristische Bedrohung durch den IS, al-Qaida und ähnliche Gruppen verlangt einen qualitativen Sprung bei der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Europa. Das betrifft Koopera -tion und Datenaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden und zwischen den Diensten, aber perspektivisch auch Œ wenn wir die Errungen -schaft innereuropäischer Freizügigkeit erhalten wollen Œ einen gemein -samen Schutz der Außengrenzen, was eine gemeinsame Küstenwache ein -schließen könnte. Das betrifft aber ebenso Fragen von I ntegration und Prä -vention in unseren eigenen Ländern. Wenn mehrere Tausend junge Euro -päer nach Syrien in den Krieg ziehen, können wir das nicht nur mit der dortigen Lage oder der Anziehungskraft des IS erklären. Wir riskieren unsere Glaubwürdigkeit im Di alog mit arabischen Ländern oder mit der Türkei, von denen wir mehr Einsatz im Kampf gegen den Terrorismus ver -langen, wenn wir dabei die hässliche Tatsache übersehen, dass bislang mehr Selbstmordattentäter aus Europa nach Syrien und in den Irak gereist sind als umgekehrt. Hier gilt ebenfalls, dass Außenpolitik zuhause beginnt.

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SWP Berlin Begriffe und Realitäten internationaler Politik Januar 2016 9 Scheitern? Bestehen? Weitergehen? Die europäische Integration in der Krise Barbara Lippert / Nicolai von Ondarza Mit der Euro -Krise und d en enormen Flüchtlingsströme n nach Europa ist das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) geschwunden. Mittlerweile sprechen selbst Regierungsspitzen vo n eine m mög lichen Scheitern der EU und damit der europäischen Integration. Bei den Ver handlungen mit Griechenland drohte die »Unwiderrufbarkeit « des Euro s aufgekündigt zu werden, während in der Flüchtlingskrise d as Prin -zip offene r Grenzen im Schengen -Raum temporär ausgesetzt und sogar generell zur Disposition gestellt wurde. Die Währungsunion wie auch das Schengen -System sind Integrationsprojekte von eminenter politischer Be -deutung, mit denen die Mitgliedstaaten Teile ihrer nationalen Souveränität auf die EU übertragen haben. Ein Rückbau dieser ohnehin halbfertig gebliebenen Projekte wäre ein erheblicher Rückschlag für die Zusammen- arbeit und den Zusammenhalt in der EU. Großbritannien möchte sich dauerhaft vom weiteren Integrationsprozess abkoppeln ; Anti -EU-Parteien in anderen Ländern wollen d ies em Beispiel folgen. Das Vertrauen in die Unumkehrbarkeit des Integrationsprozesses schwindet ebenso wie die Er-wartung , die EU könnte die Krisen durch weitere Integrationsschritte bewältigen. Immer weniger wird die EU als Handlungsrahmen zur Lösung transna tionaler Probleme ge sehen, immer mehr als deren Verstärker oder sogar Mitverursacher. Nie, so scheint es, war die Zukunft der EU so offen und unsic her wie heute. Was haben die einzelnen Krisen gemeinsam? Welche strukturellen Defizite in der EU decken sie a uf? Und w ie kann die deutsche und europäische Politik auf diese Herausforderungen reagieren? Krisen mit Zerstörungspotential Krisen gehören zum Normalfall der europäischen Integrationsgeschichte und wurden in der Vergangenheit als Katalysator für die wirts chaftliche wie politische Integration produktiv gemacht. Man folgte der S trategie, aus der Not eine Tugend zu machen, indem man Defizite durch eine begrenzte politikfeldspezifische, gleichwohl echte Souveränitätsübertra- gung auszubügeln suchte (»Methode Mon net «). Dies führte jedoch meist zu Stückwerkreformen mit unzureichendem Erfolg. Der Verfassungsvertrag war ein Versuch des Pfadwechsels , denn er sollte eine Blaupause für das gesamte Bauwerk der EU liefern . Er scheiterte am Misstrauen der Wahl -bevölkerung in zwei Gründungsstaaten der Union . Erst der erneute Rück -griff auf die Methode Monnet mit dem Lissabonner Vertrag brachte die EU wieder auf Kurs. »Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint «, postulierten die Spitzenve rtreter der EU -Organe 2007 in der Berliner Erklärung. Allerdings verkannten sie Œ nicht anders als die Öffentlichkeit Œ, dass sich die EU mit dem Regelwerk der

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Die europäische Integration in der Krise SWP Berlin Begriffe und Realitäten internationaler Politik Januar 2016 10 Europäischen Ver träge auf ein »strenges Glück« (Thomas Mann) mit hohen Loyalitäts – und Leistungs anforderungen verpflichtet hat. Das zeigen zwei politische Herausforderungen der jüng sten Zeit, die Fragezeichen vor die Zukunft der europäischen Integration gesetzt haben. Erstens die Eurokrise, bei der seit Anfang 2010 zunächst Griechenland, dann Portugal, Irland, Spanien und Zypern nur mit Hilfe der Euro -Partner und des Internationalen Währungsfonds ihre Zahlungsfähigkeit aufrecht- erhalten konnten. Im Verlauf der vielschichtigen Krise ist es der Eurozon e zwar gelungen, die strauch elnden Staaten zu stabilisieren und in einzel- nen Bereichen die eigenen Strukturen zu stärken, etwa in Form verschärf- ter Haushaltskontrolle, durch Aufbau des Europäischen Stabilitätsmecha- nismus (ESM) und mit der Bankenunion. D och die Eurozone bleibt stör -anfällig, wie die Eskalation bei den Verhandlungen mit Griechenland im Sommer 2015 zeigte. Erstmals stand die Mitgliedschaft eines Landes in der Euro zone ernst haft zur Disposition. Unterdessen ver schieben Nicht -Euro -staaten wie P olen ihre Pläne für einen Beitritt in die ferne Zukunft. So ver -abschiedet man sich schleichend vom Ziel der gemeinsamen Währung. Zweitens die Flüchtlingskrise: Sie unterminiert mit rasanter Geschwindig -keit eine der größten praktischen Errungenschaften un d wichtigsten poli -tische n Symbole der europäischen Integration Œ die offenen Binnengren- zen im Schengen -Raum. Angesichts der enorm wachsenden Flüchtlings- zahlen seit Sommer 2015 zeigten sich fast alle betroffenen EU -Staaten un -vorbereitet und überfordert. Nach dem Bau von Grenzzäunen in Bulgarien und Ungarn folgten Deutschland, Österreich und andere Staaten mit einer Œ temporären Œ Wiede reinführung von Grenzkontrollen auch innerhalb des Schengen -Raums. Z war konnten sich die EU -Mitglieder hier auf einige geme insame Schritte einigen, etwa die Stärkung der EU -Grenzschutzagentur Frontex und die Verteilung von 160 000 Asylbewerbern. Offen bleiben jedoch die Frage eines dauerhaften Ver teilungsschlüssels und die Tiefe der Zusammenarbeit beim Grenzschutz. Die EU ist nicht zu einer zügigen Selbst -korrektur in der Lage, um die Funktionsfähigkeit des Dublin -Systems wiederherzustellen oder ein alternatives System zu schaffen. Für die Unions -bürger zeigt sich darin , wie sehr Anspruch und Wirklichkeit auseinander -klaffen. Selbst beteiligte Akteure können kaum mehr nachvollziehen, wo in diesem Feld von der EU – bis zur lokalen Ebene eigentlich die Verantwortung für politische Entscheidungen liegt. Bei allen Unterschieden verweisen die beiden Krisen auf ähnliche Schwachstellen der europäischen Integration. In beiden Fällen sind Groß -vorhaben der EU betroffen , die Kernbereiche nationaler Souveränität be -rühren. Eine Einigung auf diese ehrgeizigen Projekte war jeweils nur über eine differenzierte Integration möglich Œ sei es , wei l einzelne Mitgliedstaa- ten die Voraussetzungen für eine Teilnahme nicht erfüllten oder weil sie grundsätzlich nicht mitmachen wollten. Gleichzeitig fassten die Mitglied- staaten jeweils lange Zeiträume ins Auge, um das Schengen – und das Euro -system schrittwe ise zu verwirklichen. Denn selbst integrationsfreundliche Staaten konnten sich nicht auf eine vollständige und teils auch benachbar- te Politikbereiche betreffende Vergemeinschaftung einigen. So blieben die

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Grenzen der Regierbarkeit im Mehrebenensystem SWP Berlin Begriffe und Realitäten internationaler Politik Januar 2016 11 Projekte in halbfertigem Zustand, während die Vorst ellungen über den Weiterbau oder gar eine Vollendung weit auseinanderliegen. Weder ist es möglich, im Schengen -Raum d ie F lüchtling e durch eine gemeinsame Asyl -politik auf einzelne Länder zu verteilen , noch ist es in der Eurozone gelun -gen, über eine weitreichende Koordinierung von Wirtschafts – und Finanz- politik ökonomische Divergenzen abzubauen. Grenzen der Regierbarkeit im Mehr eben ens ystem In beiden Politikbereichen mangelt es der EU an Durchgriffsrechten und politischer Steuerung. Die für den Umgang mit komplexen Herausforde- run gen nötigen Entscheidungen und Instrumente sind meist nicht exklu -siv bei der nationalen oder der europäischen Ebe ne angesiedelt. Vielmehr müssen beide Ebenen von der Prävention bis zum Krisenmanagement und den Folge aufgaben abgestimmt ineinandergreifen. Rein regelbasierte Ver -fahren haben sich als unzureichend erwiesen, um Gemeinsamkeit in Wort und Tat zu erzeugen. Die EU hat bei Regelbruch keine oder nur stumpfe Sanktionsmittel, oder sie scheut davor zurück, solche anzuwenden. Weder in der Flüchtlings – noch in der Eurokrise verfügt die EU -Ebene über Durch -griffsrechte, um Fehlentwicklungen in einzelnen Mitgliedstaat en entgegen -zutreten. So scheiterte die Union beide Male am Modus der Freiwilligkeit : Sie vermochte keine länderspezifischen Empfehlungen durchzusetzen, um die Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum zu stärken, und ebenso wenig konnte sie gemeinsame Asylstandard s implementieren. Diese Mängel zeigen sich besonders deutlich, wenn politisch unbequeme Lasten verteilt werden müssen. Regierungen wie die ungarische testen da -bei die Spielräume nationaler Souveränität aus, verweigern konstruktive Zusammenarbeit und erwei tern so peu à peu die Grenzen des im Integra- tionsverband Zumutbaren. Entsolidarisierung wird immer häufiger als systemkonform betrachtet . Für die EU ist das bedrohlich, denn sie ist weni -ger als die Nationalstaaten in der Lage, Ressourcen wie Vertrauen, Lo yalität und Identifikation zu mobilisieren. Außer dem lösen Alleingänge inner- halb des Integrationsverb undes, unbedacht oder mutwillig, Kettenreaktio- nen in anderen Ländern aus. Deshalb stieß Œ ungeachtet d er humanitären Grundlage Œ die Entscheidung der Bunde sregierung auf erhebliche Kritik , das Dublin -System für syrische Flüchtlinge vorläufig auszusetzen. Die EU teilt zudem die generellen Effektivitäts – und Legitimitätsproble- me repräsentativer Demokratien. Faktoren wie d ie Fragmentierung der Parteiensysteme, die Polarisierung zwischen den Parteien und das volatile Wahlverhalten der Bürger komplizier en die Regierungsbildung und füh -ren in einigen Mitgliedst aaten zu Problemen der Regierbarkeit (Wilhelm Hennis) und der Legitimation. Die Folge sind nicht nur Kurswechsel in der Europapolitik, wie et wa die Niederlande einen vollzogen haben . Vor allem reduziert der Druck , den E U-Gegner erzeugen, den Spielraum der nationa- len Führungen für Kompromisse auf europäisch er Ebene. Die Regierungen sehen sich gedrängt, die Mitwirkung an der EU -Politik vorwiegend utilita -ristisch zu begründen Œ falls dies nicht ohnehin ihrer Haltung entspricht.

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